Integration ist kein Sprint, sie ist ein Ausdauerlauf

Margitta Hollick

Seit 2010 ist die Anzahl der in Leipzig lebenden Menschen mit Migrationserfahrung stark angewachsen. Das Jahr 2015 war eine besonders große Herausforderung an die Stadtgesellschaft. Über 4200 Geflüchtete suchten allein 2015 ein neues Heim, eine neue Heimat.  Nur weg von Krieg, Verfolgung, Hunger und Angst. Mehr als ein Drittel der Asylbewerber/-innen war  jünger als 18 Jahre.
Unsere bildungspolitische Stunde beschäftigt sich heute mit den 16 – 27 Jährigen zum Thema Integration – Bildung – Migration. Der häufigsten Satz hierbei ist sicher:  Integration beginnt mit Sprache  und ist erfolgreich durch Ausbildung und Arbeit.
 Der Satz ist richtig, aber an unseren Taten sollten wir uns messen.
In dieser Altersgruppe sind die Fragen des Nachholens oder Erreichen von Schulab-schlüssen, ein erfolgreicher Übergang in Ausbildung und Arbeit, das Gründen einer Familie mit eigener Wohnung von besonderer Bedeutung. Die jungen Menschen kamen mit Vorstellungen und Wünschen nach Deutschland, nach Leipzig. Die Wirklichkeit war für die meisten von ihnen völlig neu und unbekannt und hat auch einen Teil ernüchtert, vielleicht auch verzweifelt. Fragen wie: „Was ist duale Ausbildung (nicht einmal Frankreich oder die USA kennen das)? Warum sollte ich einen Schulabschluss erreichen? Warum ist der Weg ins Arbeitsleben so weit?“, beantworten Lehrer/-innen , Sozialarbeiter, ehrenamtliche Unterstützer täglich neu.
Ich habe in Vorbereitung der bildungspolitschen Stunde die Akteure, die für diese Altersgruppe Verantwortung tragen befragt, was kann die Stadtgesellschaft noch besser machen, um diese Altersgruppe in Ausbildung und Arbeit zu integrieren, Ich war bei den Schulen des 2. Bildungweges, der Bildungsagentur, der Volkshochschule, der IHK und HWK, im Jobcenter, in unserem Referat für Migration und im Jugendamt und habe dabei einen weitreichenden Überblick erhalten. Ich habe einen weitreichenden, aber auch noch nicht vollständigen Blick erhalten. Ich möchte in meinen Ausführungen auf einige Probleme hinweisen. die wir als Stadt beeinflussen können und wo wir uns politisch beim Freistaat und Bund Gehör verschaffen müssen, wenn dieser Prozess ergebnisorientierter sein soll.

Viele der Neuzugewanderten sind also in einem Alter, in dem schulische bzw. berufliche Ausbildung noch nicht abgeschlossen ist. Etwa 30 % in dieser Altersgruppe haben keine Schule oder  eine maximale Schulbesuchsdauer, die bei uns einer Grundschule entspricht.

  1. Die 16 – bis 18 Jährigen sind in DaZ-  oder in Vorbereitungsklassen mit beruflichen Aspekten  (VKA) der Beruflichen Schulzentren. Wir haben an 7 beruflichen Schulzentren der Stadt  9 derartige Klassen mit durchschnittlich je 20 Schüler/-innen.
    80 Schüler sind in Vorbereitungsklassen, 89 Schüler/-innen mit Migrationserfahrungen sind im BVJ mit dem Ziel einen Abschluss zu erreichen, der dem Hauptschulabschluss gleich
    gestellt ist.
    Was machen wir in Leipzig gut:
    Die Beschulung der 16 – 18 Jährigen erfolgt unabhängig vom Aufenthaltsstatus so schnell wie möglich. Auf Grund des unterschiedlichen Sprachstandes braucht ein Teil einfach mehr Zeit. Die Bildungsagentur führt deshalb nach den Herbstferien vier Dehnklassen (in die übrigens auch deutsche Jugendliche gehen können und sollen) ein.
    Unbefriedigend ist : Geflüchtete haben nach dem Willen des SMK seit September 2016 die Berufsschule nur bis 18 Jahre zu besuchen und sollen zum Schuljahresende ausgeschult werden, d.h., im Regelfall kann ein neuzugewanderter Jugendlicher , z. Zt. praktisch keinen Schulabschluss dort erreichen auch wenn er/ sie über das Potenzial verfügt. Warum kann ein deutscher Jugendliche bis 27 Jahre auf die Berufsschule gehen? Hier sind politische Aktionen gefragt und deshalb war ihre Meinungsäußerung, Herr OBM,  in der LVZ richtig und zur rechten Zeit.
     Die Schulen des 2. Bildungsweges für Jugendliche ab 18 Jahre, Abendoberschule, Abendgymnasium,  beschulen zur Zeit 85 Jugendliche mit Migrationserfahrung  im Hauptschul-,  51 im Realschulgang, 12 das Abendgymnasium, weitere 80 sind Vorbereitungs-, Vorkurs- und Eingangsklassen des Kollegs. In den Klassenstúfen 11, 12 des Kollegs ist noch keiner angekommen. Diese Schulen haben  einen wichtigen Bildungsauftrag Sie brauchen deshalb dringend einen Schulsozialarbeiter. Das Erhalten der Motivation, das Verhindern des vorzeitigen Abbruchs und viele für uns selbstverständliche Lebensfragen müssen dort täglich neu beantwortet werden. Wir werden dazu einen Antrag einreichen.
    Aber es gibt noch ein viel wichtigeres Problem. Abendoberschule und -gymnasium beginnen erst 16.40 Uhr. Was machen die fast 150 Jugendlichen bis 16. 40 Uhr?
    Hier wäre die Handwerkskammer sofort in der Lage sogenannte BOF- Maßnahmen (Berufsorientierung für Flüchtlinge) durchzuführen. 12 Jugendliche hat die HWK in solch einer Maßnahme; 175 könnte sie theoretisch noch aufnehmen. Dann hätten die Jugendlichen einen strukturierten Tag und lernen, welche Anforderungen sie in einem Beruf erfüllen müssen, können sich erproben und der Kontakt zu den Innungen wäre direkt gegeben.
    Hier sollten und würden die Schulen des 2. Bildungsweges mit dem Ausbildungszentrum der HWK gern enger zusammenarbeiten. Die Abbruchquote würde garantiert sinken. Aber keiner (ich meine Bund oder Land) ist bereit, eine solche Maßnahme aufzulegen und  zu bezahlen. Das Angebot sollte für deutsche und zugewanderte Flüchtlinge möglich sein. Übrigens von den   12 Jugendlichen in BOF sind 7 in Ausbildung und einer in einer Einstiegsqualifizierung, also 8 sind vermittelt = 75 %. um das zu ermöglichen, müssten auch Bürokratiehürden abgebaut werden, denn gegenwärtig darf ein Zugewanderter keine 2 Maßnahmen gleichzeitig absolvieren; auch wenn sie sich ergänzen würden.
    Da sind wir beim nächsten Problem:
    Der Zugang zu den einzelnen Maßnahmen ist vielfach abhängig vom Aufenthaltsstatus und der Aufenthaltsdauer. Jugendliche mit Aufenthaltsgestattung bzw. Duldung sind häufig von arbeitsmarktbezogenen Maßnahmen ausgeschlossen. Das ist grober Unfug. Diese Perspektivlosigkeit ist nicht selten Grundlage für nicht rechtskonformes Verhalten. Für Jugendliche sollte generell die 3 + 2 – Regel gelten, d,h. 3 Jahre Ausbildung in Sprache und Beruf  und 2 Jahre Arbeit und dann, neue Entscheidung durch die Ausländerbehörde.
     Das Beispiel des indischen Jugendlichen Dhruv Patel, der im Autohaus Saxe  Lehrling war, steht für diesen Unfug  exemplarisch. Gut integriert mit Zukunftsperspektive, trotzdem abgeschoben.
    Lassen sie mich abschließend auf ein paar Probleme hinweisen, die mir zu denken geben.
     Es gibt viele Maßnahmen, die es ermöglichen könnten, Geflüchtete in Ausbildung oder Arbeit zu integrieren. Trotzdem tun wir uns schwer.
     1. Die Jugendliche sind immer besser in der Lage Alltagsdeutsch zu sprechen. Es fehlt an Kenntnissen über das gesellschaftliche Leben (Beispiel: Sozialversicherungen) und die berufskonkrete Sprache. Die Einstiegsqualifizierungen für Jugendliche sind dabei eine große Hilfe. BMW, Siemens haben je eine Klasse mit 16 Jugendlichen gebildet, 11 kleine bzw. mittlere Unternehmen haben bei der IHK 44 EQ-Verträge abgeschlossen. Dieser Prozess sollte forciert werden. Wir sind Logistik- Tourismusstandort. DHL, Schenker, viele Hotels o.a. könnten solche EQ’s anbieten. Hier ist das Amt für Wirtschaftsförderung gefordert einen Anteil in Zusammenarbeit mit den Kammern zu leisten.
  2. Es gibt ohne weiteres viele Maßnahmen. Bei meinen Gesprächen hatte ich den Eindruck, dass diese zum Teil am Schreibtisch ohne Praktiker konstruiert wurden. Ein Beispiel die Maßnahme Perjuf – Perspektive für junge Flüchtlinge im Handwerk. Man müsste meinen mit Borsdorf hat die HWK die besten Bedingungen. Die kostet aber auch Geld. Ein Ausbilder in Borsdorf hat eine Vergütung, die höher ist als der Mindestlohn. Es wurden vorrangig Maßnahmeträger genommen, die nur Mindestlohn zahlen kurzum. Die Maßnahmeträger unterbieten sich,
    Mit der Berufsschule Borsdorf hat die HWK die besten Bedingungen. Aber das BAMF ist nicht bereit, die logischerweise höheren Kosten als bei freien Trägern zu finanzieren.
  3. Seit Juli 2016 gibt es eine Deutschförderverordnung nach §5 Aufenthaltsgesetz. Die Bedingungen für diese Förderung können nicht einmal die Unternehmen der IHK erfüllen. Also stellt man keinen Antrag. Deuföf ist wichtig, sollte aber den ausbildungsbegleitenden Hilfen in der Berufsschule gleichgestellt werden und nicht an eine Mindestanzahl von 16 Azubis gekoppelt sein; sondern individuelle Hilfe sein. Hier ist das BAMF ebenfalls gefordert nachzubessern.
  4. Unser Projekt Joblinge ist gut. Wir haben in der vergangenen Stadtratssitzung weiterführende Beschlüsse dazu gefasst. Das war richtig. Es betrifft vorrangig Jugendliche mit Realschulabschluss.
  5. Frau Bran aus dem Referat für Migration leitet einen Arbeitskreis, der alle Akteure mind. zweimal im Jahr zusammennimmt und Aufgaben und Probleme berät.
    Das wird von den Kammern, dem Jobcenter, der Volkshochschule, dem AJuFaBI sehr gelobt.
    Mitarbeiter der Verwaltung aus verschiedenen Ämtern haben eine Vorlage 04455 erarbeitet unter dem Titel: Bildungs- und Arbeitsmarktintegration Neuzugewanderter im Alter von 16 bis 27 Jahren. Situationsbeschreibung und konzeptionelle Ansätze für den Erwerb eines Schulabschlusses sowie Arbeitsmarktintegration.
     Diese sollte umgehend allen Stadträten und der Öffentlichkeit zugängig gemacht werden.
  6. Es werden zur Zeit 318 minderjährige Ausländer und 77 junge Volljährige bis 21 Jahre betreut. In den umA –Einrichtungen freut sich kaum einer auf den 18. Geburtstag, denn dann müssen diese die Gemeinschaftunterkunft verlassen und wären auf sich alleine gestellt.
    Die umA-Betreuung durch das Jugendamt unter Leitung von Frau Hafkesbrink geht den richtigen und zum Teil einen neuen  Weg. Das Amt verfügt über Wohngruppen, wo die jungen Volljährigen weiter betreut werden können und müssen, Die umAs und jungen Volljährigen besuchen Berufsschulen oder die Schulen des 2. Bildungsweges. Hier ist der sinnvolle Vormittag gesichert. Praktika, Bibliothek oder/und Arbeit (im Einzelfall) wird ermöglicht und genutzt.

Abschließend möchte ich sagen. Es gibt viele Maßnahmen, aber nicht zu viele.
3524 Jugendliche mit Migrationserfahrungen im Alter von 16 bis 27 Jahren leben in unserer Stadt mit unterschiedlichen Aufenthaltsstatus. Denn Integrationskurs können eigentlich alle ablegen. Nach dem Jobcenter haben wir dazu 24 Bildungsträger, aber was dann? Etwa die Hälfte werden durch Integrationsmaßnahmen Schule und Ausbildung erfasst. Was passiert mit den nicht erfassten Jugendlichen? Sicher ein Teil der jungen Zugewanderten arbeitet, nimmt keine Ausbildung auf. Auch darüber sollte mehr gesprochen werden.
Welche Unterstützung brauchen diese jungen Menschen um sich in die Stadtgesellschaft zu integrieren? 
Es fehlt meiner Meinung nach noch an einer zentralen Datenbank auf die die Akteure Zugriff haben  und an einer verbesserten Steuerung. Hier brauchen wir für ca. 6 Jahre eine Stabsstelle, Herr Oberbürgermeister, dann kann mit den Akteuren individueller und  zielgerichteter auf den Jugendlichen gearbeitet werden.
Ich habe bei der Vorbereitung zum Thema viel Neues erfahren und verspreche den Mitarbeitern, dies in den Stadtratsausschüssen anzusprechen. Auch halte ich es für wichtig, die Akteure in die Fachausschüsse zur Problematik einzuladen.

Mein letzter Satz zur Thematik kommt von Dr. Ziener aus der IHK:
Integration ist kein Sprint, es ist ein Ausdauerlauf, der langsam schneller wird und wir müssen aufpassen, dass wir den Anschluss nicht verlieren

Rede zur Bildungspolitischen Stunde