Grundrechtseinschränkungen bedrohen demokratische Kultur – Ereignisse um das Wochenende 3./4. Juni kritisch aufarbeiten!

Juliane Nagel

„Wir blicken auf eine verstörende Woche zurück. Eine Woche, in der Grundrechte in der Stadt, in der wir leben und politisch wirken, suspendiert wurden. Als Einwohner*innen dieser Stadt wurde uns unser Recht auf Versammlungsfreiheit und unser Recht auf freie Meinungsäußerung genommen.“ heißt es in einem Offenen Brief an den OBM Burkhard Jung, den an die 1000 Menschen unterzeichnet haben.

Die Wahrnehmungen über dieses Wochenende gehen stark auseinander, zumindest ich kann mit Jürgen Kasek behaupten, vor Ort gewesen zu sein. Und dafür, für unser gesellschaftliches Engagement und für die Übernahme von Verantwortung lassen wir uns nicht diskreditieren, weder von AfD/ CDU noch vom OBM oder dem Pressesprecher der Stadt.

Und ich sage Ihnen klar: Die Motive, am 3. Juni auf die Straße zu gehen, waren sehr divers: Die einen wollten gegen die massiven Eingriffe in die Grundrechte auf Versammlungsfreiheit und freie Meinungsäußerung demonstrieren, die anderen gegen Neonazis, einige gegen das Urteil, welches am 31.5. in Dresden gegen ´vier Antifaschist:innen gesprochen wurde – manche auch alles zusammen. All diese Menschen zu Gewaltbefürworter:innen oder –täter:innen zu machen, ist unlauter, allen diesem Menschen ihre Rechte zu beschneiden, ist eines Rechtsstaates unwürdig!

Ja, im Vor- und Umfeld der Versammlung am 03.06.2023 gab es unzweifelhaft Gewalt und Gewaltaufrufe – dagegen hatte sich mein Büro linXXnet schon vorher klar positioniert. Dass der Rechtsstaat darauf selbst mit roher Gewalt und Verstößen gegen unsere Verfassungsprinzipien und Grundrechte reagiert, darf aber eben nicht sein. Genau das ist das Wesen des Rechtsstaates!

Und übrigens: wie oft schon betont, lehnen wir als LINKE Gewaltphanatasien und -ausbübung gegen Menschen, dabei sind Polizeibeamt:innen explizit eingeschlossen.

Ein Rechtsstaat allerdings, der mit voller Härte zuschlägt, widerspricht dem Gedanken des Rechtsstaats selbst.

Die Suspendierung von Grundrechten begannt aus meiner Sicht aber mit dem Erlass der Allgemeinverfügung der Stadt am 30.5. und dem Verbot konkreter Versammlungen und dann insbesondere der Untersagung der Versammlung für Versammlungsfreiheit zu laufen geschehen. Auf Basis einer vollkommen überzogenen Gefahrenprognose von Innenministerium, Polizei und Verfassungsschutz wurden Grundrechte beschnitten und Teile der Stadt von der Polizei belagert.

Garniert durch politische Stimmungsmache wurde der 3.6. dann zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Während in Teilen der Stadt das Stadtfest gefeiert, Fußball gespielt und Herbert Grönemeyer gelauscht wurde, was richtig, wichtig und gut ist, wurde für andere Teile der Stadt der Ausnahmezustand verhängt, mussten sich Menschen unwürdigen Kontrollen unterziehen, wenn sie ins Raster der Polizei passten. Welch dystopische Gleichzeitigkeit!

Wir – Jürgen Kasek, Marco Böhme und ich – haben vor Ort am Alexis-Schumann-Platz mit der Einsatzleitung der Polizei verhandelt, die Demo laufen zu lassen und damit Druck vom Kessel zu lassen. Es folgte die Eskalation und ein vollkommen unverhältnismäßiger Polizeieinsatz.

Ausbaden mussten dies dann über 1000 Menschen, die elf Stunden lang am Heinrich-Schütz-Platz zum großen Teil wahllos eingekesselt waren, die schikaniert wurden und denen Grundbedürfnisse versagt worden. Trinken erst nach vier Stunden, kein WC, kein Essen, kein Kälteschutz, Rechtsanwält:innen und Eltern wurden nicht zu den Umschlossenen vorgelassen.  Das ist ein Skandal, der aufgearbeitet werden muss. Der Stadt kommt hier vor allem die Rolle zu, die Rechte von Minderjährigen gegenüber der Polizei zu verteidigen.

Vor allem müssen wir uns aber fragen, was dieses Erlebnis mit den Betroffenen, mit den jungen Menschen, mit den Eltern und Angehörigen macht. Ihnen die Hand zu reichen, eine kritische Aufarbeitung, das Eingeständnis von Fehlern wären jetzt vor allem seitens der Polizeiführung an der Reihe!

Viele aber treibt nun auch die Frage um, welche Rolle die Stadt in diesem Szenario einnimmt.  Wenn der Oberbürgermeister alle, die am 3.6. auf der Straße waren, als „durchgeknallte Gewalttäter aus Connewitz“ bezeichnet, vergrößert das die Spaltung. Wenn Räume für die – auch kontroverse - Auseinandersetzung über das AntifaOst-Urteil genommen werden, dann werden Teile dieser Stadtgesellschaft stumm gemacht. Wenn zahlreiche Versammlungen mit anderem Anliegen und Organisator:innenkreis dann eben doch pauschal verboten werden, wie u.a. die von in Leipzig bekannten und aktiven Initiativen wie Omas gegen rechts und Eltern gegen Polizeigewalt am 4.6. verboten wurden, ist das Maß voll.

Ich appelliere an die Stadtverwaltung: Nehmen sie eine aktive kritische Rolle in der Aufarbeitung des Wochenendes ein und handeln Sie in Zukunft verhältnismäßig und grundrechtsfreundlich! Bereiten wir uns gemeinsam auf derartige kommende Szenarien vor.

Und ich appelliere an alle demokratischen Parteien, das unwürdige Spiel der Pauschalisierung und Kriminalisierung von Menschen, die sich für und in unserem Gemeinwesen engagieren, und die Etikettierung eines ganzen Stadtteils zu unterlassen. Was es braucht ist ein differenziertes und verhältnismäßiges Vorgehen, in Wort und Tat.