Michael Neuhaus zum EKSP2030: "Wir brauchen eine soziale Vision und Lösung für die Frage „Rette ich meinen Arsch oder das Klima“.

Michael Neuhaus

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, sehr geehrte Beigeordnete, lieben Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen,

Laut Berechnungen des Deutschen Wetterdienstes wird Deutschland bereits Mitte des Jahrhunderts zwei Grad wärmer sein als zu Beginn der Industrialisierung. Im Sommer werden die Temperaturen nur selten unter 30 °C sinken. Bei Spitzentemperaturen bis zu 40°C verwandeln sich die Innenstädte in verwaiste Backöfen. Nachts wird uns die Hitze oft nicht schlafen lassen. Baustellen werden stillstehen. Viele Menschen werden ihren Jobs aufgrund der Hitze nicht mehr nachgehen können. Schlechtwettergeld gibt es dann im Sommer.

Heute schon sterben in Großstädten mehr Menschen durch Hitze als durch Verkehrsunfälle. Die Sommer 2018 bis 2020 rafften in Deutschland mehr als 19.000 Menschen hin. Im westlichen Kanada wurde im Juli 2021 eine Temperatur von 49,6°C gemessen.  486 Tote. Im selben Monat wurde in China ein historischer Niederschlag verzeichnet. 302 Menschen starben.

Auch über Westeuropa brach die Sintflut herein. Die Flut an Erft und Ahr kostete 141 Menschenleben alleine in Deutschland. Wann haben wir beschlossen, den Tod von Menschen einfach so zu akzeptieren?“

Im EU-Programm „Fit For 55“ heißt es, Klimaschutz muss „kosteneffizient“ und „wettbewerbsorientiert“ erfolgen. Kosteneffizient heißt, dass wir ausrechnen, ob der Schutz eines Menschenlebens den wirtschaftlichen Schaden rechtfertigt. Der Jenaer Professor Klaus Dörre beschreibt dieses Verhältnis als ökonomisch-ökologische Zangenkrise. Wir fahren mit Tempo 180 auf die Wand zu und wer zuerst bremst, verliert. Wer nicht bremst, verliert aber auch. Ich stelle mir oft die Frage, warum so viele Menschen das mitmachen.

Die beste Antwort darauf gab ein Arbeiter in einer Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung zur Zukunft der Automobilindustrie. Ich zitiere: „Da wird im Kopf durchdacht: Was ist wichtiger? Mein Arsch oder das Klima?“

Sehr geehrte Damen und Herren,

Mein Vater pendelte bis zur Rente mit dem Auto täglich in den Westen zur Arbeit. 55 Kilometer hin, 55 Kilometer zurück.

Morgens um 7 fuhr er los. Abends kam er erst spät wieder. Zeit für die Familie blieb da nur wenig. Wäre er mit dem Zug gefahren, hätte er mindestens eine Stunde weniger gehabt. Geld war trotzdem nie da. Der Urlaub einmal im Jahr war alles andere als selbstverständlich. Mein Vater fuhr nicht täglich 100 Kilometer, weil er das Klima hasste, oder weil er so gerne Auto fährt. Sondern weil er musste. Als er in Rente ging, verkaufte er das Auto. Wenn er mich besucht, kommt er mit dem Zug.

Ich habe die Geschichte schon mal erzählt. Mir wurde entgegnet, mein Vater hätte sich einfach einen neuen Job suchen können. Wer die Klimakrise auf individuelle Verhaltensweisen reduziert, kann sich gut fühlen. Endlich wird die Rettung der Welt an der Supermarktkasse möglich: Ein Leipziger Start Up pflanzt pro vernaschten Schokoriegel einen Baum? Auf geht’s. Retten wir den Regenwald! Wie viele Schokoriegel müssen wir dafür verdrücken? Schuld an der Umweltkrise ist, wer nicht mitisst.

Für mich ist das jedoch moralischer Ablasshandel. Klimaschutz ist in erster Linie eine soziale Frage. Die Hälfte der Gebäude in Deutschland befindet sich in einem schlechten energetischen Zustand. Man kann heizen noch und nöcher und friert trotzdem. Je geringer das Einkommen der Mieterinnen und Mieter umso schlechter der Zustand des Hauses. Glauben Sie, irgendein Immobilienunternehmen wird sich deshalb an den Nebenkosten beteiligen? Wohl kaum.

Hätten meine Eltern eine Photovoltaikanlage auf dem Dach ihres Mehrfamilienhauses, würde diese auch in Krisenzeiten wie jetzt gerade günstigen Strom liefern. Hätten sie eine Wärmepumpe im Haus, hätten sie im Winter bezahlbare Wärme. Haben sie aber nicht.

Die Rechnung dafür wird nicht mit der Rendite der Unternehmen beglichen, sondern von ihrem Konto. Doch leider hat auch die Bundesregierung nur wenig Mitgefühl mit dem Heer der Lohnabhängigen. Sie versenkt lieber 100 Milliarden Euro im Heer der Bundeswehr.

Gestern wollte die Bundesregierung ein Sofortmaßnahmenprogramm Klimaschutz mit Schwerpunkt Gebäude und Verkehr vorlegen. Sorry, liebe Lohnabhängige, die Bundesregierung hat heute leider keine bezahlbaren Nebenkosten für euch. Das Papier wurde in den Mühlen der Regierungsparteien zerrieben.

Im Klimaschutzprogramm der letzten Bundesregierung heißt es: „Alle zusätzlichen Einnahmen aus diesem Programm werden in die Klimaschutzfördermaßnahmen reinvestiert oder in Form einer Entlastung den Bürgern zurückgegeben“. 12,5 Milliarden Euro hat der Bund eingenommen. Die Klimadividende, die alle Regierungsparteien in ihren Wahlprogrammen gefordert haben, fehlt bis heute. Klimaschutz wird von den Regierenden als Frage der richtigen Technologie verstanden. Zugriff hat zuerst, wer Geld hat. Das muss zwangsläufig scheitern. Klimaschutz für die Mehrheit, nicht nur für Wenige, würde soziale Gerechtigkeit bedeuten.

 

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, sehr geehrte Damen und Herren,

Am Ende meiner Rede möchte ich aber doch noch kurz auf das Energie- und Klimaschutzprogramm eingehen. Gerechte Klimapolitik bedeutet für die Mehrheit der Menschen nicht weniger, sondern mehr Lebensqualität. Bezahlbare Energie, Mobilität auch ohne Auto, ein gesundes Wohnumfeld und zwar für alle. Wir brauchen eine soziale Vision und Lösung für die Frage „Rette ich meinen Arsch oder das Klima“. Im Energie- und Klimaprogramm kommt sie mir zu kurz.

Bezahlbares Wohnen, eine nachhaltige, grüne Stadtentwicklung oder Verkehrsplanung – das sind klassisch kommunale Themen. In Hannover gab es beispielsweise das Förderprogramm „Energieeffizienz mit stabilen Mieten“.

Herr Dienberg, es warten große Aufgaben auf sie.

Wenn ich im Rathaus bei 30 Grad Außentemperatur keine Jacke mehr tragen müsste, wäre das ein Anfang.

Zum Abschluss:

Beim Klimaschutz wird oft wird das Bild des gemeinsamen Bootes, indem wir angeblich alle gemeinsam sitzen, bemüht. Ich denke da immer an die Titanic: Wir sitzen alle im selben Boot. Aber das Boot hat Passagiere erster und zweiter Klasse und wenn es untergeht gibt es nicht genug Rettungsboote. Es liegt nun an uns, das zu ändern. Am besten aber wir fahren das Schiff gar nicht erst gegen einen Eisberg.

Auf Bundesebene würde ich sagen, dass die unsichtbare Hand des Marktes dafür ein denkbar schlechter Steuermann ist. Auf kommunaler Ebene bin ich da bescheidener.


Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit.