Menschen mit seelischen Beeinträchtigungen nicht hängen lassen!

Dr. Volker Külow

Die Psychiatrie hat in den vergangenen beiden Jahrhunderten einen enormen Erkenntnisfortschritt zurückgelegt, der nicht zuletzt von Leipziger akademischen Koryphäen gebahnt wurde und gut belegt ist. Ein skandalöses Ereignis wie im Jahr 1824 die öffentliche Hinrichtung von Woyzeck, dem mehrere Gutachter die Zurechnungsfähigkeit abgesprochen hatten und das Georg Büchner in Weltliteratur verwandelte, ruft heute nur noch Entsetzen hervor. Denn die Debatte um psychiatrische Themen ist längst in einer interessierten und engagierten Öffentlichkeit angekommen. Dem sollten entsprechende Debatten auch hier im Stadtrat Rechnung tragen.

Insofern ist es gut, dass nicht wie ursprünglich geplant, diese Vorlage im Verwaltungsausschuss behandelt wurde, sondern auf unseren Antrag heute im Stadtrat auf der Tagesordnung steht. Die Drucksache hat einige von uns in den letzten Wochen sehr stark bewegt; mich als Mitglied im Psychiatrieausschuss in ganz besonderer Weise. Ich möchte deshalb einen kurzen Blick zurück auf die Vorlage und den gemeinsamen Änderungsantrag von uns und der SPD werfen.  Die meisten Stadtratsmitglieder sind vermutlich mit dem Brief des Beirates für Psychiatrie vom 30. September erstmals mit dem Thema konfrontiert worden; ich kann natürlich nur hoffen, dass möglichst viele von Ihnen diesen eindringlichen Hilferuf vor ca. sechs Wochen aufmerksam gelesen haben.  

In diesem Brief wurde nämlich festgestellt, dass in der kommenden Haushaltsperiode die komplementäre psychosoziale Versorgung in Leipzig von einer noch nie dagewesenen Kürzung ihrer Angebote bedroht sei. Dies hat zur Folge, dass 2023/2024 Einrichtungen der Psychosozialen Gemeindezentren dauerhaft geschlossen, Angebote und Öffnungszeiten erheblich gekürzt werden müssten. Die ohnehin in den letzten Jahren nicht an das Bevölkerungswachstum und steigende Bedarfslagen in Leipzig angepasste Infrastruktur an psychosozialen Leistungen würde erheblich ausgedünnt – heißt es im Brief weiter - obwohl angesichts der derzeitigen geopolitischen Krisen und gesellschaftlichen Belastungen ein Ausbau vorhandener Kapazitäten erforderlich wäre. 

Ich möchte nicht weiter aus der Stellungnahme des Psychiatriebeirates zitieren, aber die Gelegenheit nutzen, nur noch folgendes zu bedenken geben: Die Nutzerinnen und Nutzer der psychosozialen Kontakt- und Beratungsstellen sind Menschen, die es anhand ihrer seelischen Beeinträchtigung sehr schwer haben, gesellschaftlich Anknüpfung zu finden. Sie leiden an Krankheiten wie Depressionen und bipolarer Störung bis hin zu Schizophrenie und machen entsprechend mehr und geringere psychotische Phasen durch. Viele von ihnen gehen keiner erwerbsmäßigen oder ehrenamtlichen Beschäftigung nach, denn ihre Unstetigkeit in Verbindung mit ihren Ängsten Verantwortung zu übernehmen, hindern sie genau hieran. Sie sind häufig wegen Erwerbsunfähigkeit berentet oder leben von Grundsicherung.

Die Kontakt- und Beratungsstellen geben einen Rahmen, an den diese höchst vulnerablen Menschen andocken können. Ihre Hoch- und Tiefphasen werden hier toleriert. Sie können sich einbringen bzw. Kontakt zu anderen Menschen suchen so oft sie wollen. Da diese Menschengruppe nur langsam Vertrauen und neue Beziehungen aufbaut, ist jede Unterbrechung der Routine (vorübergehende pandemiebedingte Schließungen, plötzliche Erforderlichkeit sich anzumelden und mit Maske zu kommen usw.) ein herber Rückschlag.

Sollten ab 2023 nicht ausreichend Mittel für die Fortführung der Kontakt- und Beratungsstellen auf dem heutigen Niveau zur Verfügung stehen, ist es sehr wahrscheinlich, dass viele der Betroffenen ihren einzigen Kontaktpunkt verlieren, in der Isolation landen und der Chronifizierung ihres Leidens eben nicht entgegengewirkt werden kann. Aus der Praxis ist bekannt, dass Isolation die psychische Erkrankung potenziert. 

Mit dem vorliegenden gemeinsamen Änderungsantrag von LINKEN und SPD können wir das Problem der Unterversorgung der sechs Träger der komplementären psychiatrischen Versorgung heilen. Er wurde aus Sicht der Einreicherfraktionen notwendig, weil die Fraktion der Grünen mit ihrer Initiative in wenig kollegialer Weise vorpreschten und vollendete Tatsachen schufen. Aber das Thema ist uns zu wichtig und zu sensibel, um an dieser Stelle jetzt schmutzige politische Wäsche zu waschen. Wichtig ist nur eins: Die beteiligten freien Träger und Dienste stellen in den Stadtteilen unverzichtbare Funktionsachsen sozialpsychiatrischer Hilfen für schwer psychisch kranke Menschen bereit. Sie sind ein wesentlicher Bestandteil der mit dem Zweiten Kommunalen Psychiatrieplan 2020 durch den Stadtrat beschlossenen psychiatrischen und psychosozialen Versorgungsstruktur in unserer Stadt. Die Finanzierung der freien Träger wird über Versorgungsverträge sichergestellt, in der die tarifliche Bindung abgesichert sein muss.

Die bisher angewandte Vorgehensweise berücksichtigt nicht die Tarife der Träger. Sie beruht auf von der Stadtverwaltung festgelegten Kostenpunkten. Um Leistungskürzungen zu vermeiden, müssen die Stellen aber voll finanziert werden. Wir beantragen hiermit die entsprechende Anpassung, damit die Leistungsangebote der sechs freien Träger der gemeindepsychiatrischen Zentren und damit letztendlich der Versorgungsumfang sichergestellt sind.